Opa mit Hut
Meine Nichte war zu Besuch. Zwei Tage, eine lange Zeit, randvoll mit Experimenten, Spielestunden, Museumsbesuch, Geschichten… und wir treten die Rückfahrt an von Bonn, durch’s Bergische ins Sauerland. Das Kind ist müde, möchte dringlich nach Hause und sitzt hinten auf der Rückbank. Vor uns bummelt schon seit geraumer Zeit ein alter Golf mit einem älteren Paar. Der Fahrer ist offenbar im Sonntagsmodus, juckelt mit 40 km/h die enge Landstraße entlang, bremst vor jeder Kurve runter auf 30. Und die Nichte wird ungeduldig und verkündet, dass das ja mal wieder typisch sei – Opa mit Hut und so, und ob ich nicht überholen könne, und dass es so unglaublich langweilig wäre, und warum der Mann eigentlich so vor sich hin schleicht.
Blumen sehen
Es nutzt nix, die Straße bleibt eng, das Überholen unmöglich und die Reisegeschwindigkeit strapaziös langsam. Weil auch ich zunehmend ungeduldig werde, muss Ablenkung her und wir beginnen ein Ratespiel: „Mal angenommen, der Opa mit Hut hätte einen guten Grund für die Langsamkeit, welcher wohl könne das sein?“ Kinder sind ein wahrer Quell an Kreativität, merke ich… „Vielleicht ist er so verliebt in die Oma, dass er möglichst viel Zeit in dem kleinen Auto neben ihr verbringen will.“ „Er hat früher hier gewohnt und denkt bei jeder Kurve, was er da als Kind gespielt hat.“ „Die beiden müssen zu einer Beerdigung fahren und wollen eigentlich gar nicht dahin.“
Jeder Kilometer bringt neue Ideen und viel Gelächter und irgendwann, kurz vor der Autobahnauffahrt, schließt das Kind zufrieden mit dieser Bemerkung: „Er schenkt mir, dass ich jetzt gut die Blumen sehen kann.“
Die Welt entsteht in unseren Köpfen
Was ich damit sagen will? Es ist durchaus hilfreich, die eigenen Deutungs- und Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen, sich nicht in Ungeduld oder Groll oder Ungehaltenheit zu verhaken, wenn das Außen mal nicht so mitspielt, wie erhofft. Sondern nach anderen Interpretationen zu suchen und mit der anderen Perspektive auch die eigene Wahrnehmung zu verändern.
Üben Sie sich doch mal im Perspektivwechsel und erkunden die eigene, innere Resonanz zur Veränderung von Deutungen:
- Wie denken Sie gemeinhin über eine bestimmte Person? Zum Beispiel über den Kollegen, der die Dinge immer wieder viel zu spät erledigt? Und wenn Sie so (faul, unstrukturiert, unzuverlässig…) denken, welchen Einfluss hat das auf Ihr Verhalten?
- Wie anders könnten Sie über diese Person denken? Wie könnten Sie das Verhalten noch interpretieren? Welchen Sinn könnte es haben?
(Dann wäre der Kollege vielleicht besonders sorgfältig. Oder er steigt nicht mit ein ins schnelldrehende Hamsterrad des Alltags, sondern sorgt gut für sich. Oder er ist eventuell überfordert und benötigt einfach etwas Unterstützung.)
- Und wie genau verändert sich Ihr Gefühl, Ihre Stimmung – und damit auch Ihr Verhalten – wenn Sie das Spektrum Ihrer Deutungen erweitern?